Tagträumen, Löcher in die Luft starren, den Gedanken freien Lauf lassen, ins Narrenkastel schauen, Lange-Weile haben, in den Himmel blicken, andere Leute beobachten, aus dem Fenster schauen, … warten.
Warten als Geschenk
Täglich dürfen wir ein paar Minuten loslassen: Warten ist eine natürliche Pause. Pausen sind im Rhythmus der Natur eingeplant, lebensnotwendig. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf unseren Atem, bemerken wir eine Pause nach jedem Ausatmen, bevor wir den nächsten Atemzug machen. Ebenso nach jedem Einatmen, bevor wir den Atem wieder loslassen.
Wohin das Warten führt
Warten wirkt kontemplativ: Es wirft uns auf uns selbst zurück, wir werden beschaulich, sinnieren, die Aufmerksamkeit richtet sich auf unser Inneres, wir versinken in unseren Gedanken, sammeln uns, wir lassen die Welt auf uns wirken, reflektieren, wir denken nach. Warten führt zu Kreativität und zu Lösungsideen.
Warten führt auch in die Stille, die es ermöglicht, nach innen zu hören – ein Segen für alle Schwangeren und ihre Babys! Hier wird Kontakt und Begegnung möglich!
Für Kinder ist das Warten auf Weihnachten eine wunderbare Zeit. Sie genießen die Vorfreude und die Vorbereitungen. Das Warten hatte schon immer auch eine spirituelle Bedeutung. Die Arbeit ruhen zu lassen, war im Jahreszyklus vieler Kulturen an bestimmten Tagen vorgesehen, beispielsweise in der stillen Zeit der Raunächte.
Wenn Warten zur Qual wird
Ganz anders als beim alltäglichen Warten verhält es sich mit dem Warten in belasteten Situationen. Das Warten auf einen medizinischen Befund, auf eine gerichtliche Entscheidung, einen Asylbescheid, auf die Nachricht eines vermissten Menschen. Dieses Warten ist zermürbend, es bestimmt den gesamten Alltag und löst vielfach Ängste aus. Hier ist jede (professionelle) Unterstützung gefragt, die hilft, mit der Anspannung und dem Gefühl des Ausgeliefertseins umzugehen.
Keine Zeit fürs Warten
Das Warten erreicht uns immer an der Schwelle zu etwas Zukünftigem. Es ist ein Übergang. Wir sind nicht mehr hier und noch nicht dort. Die Position zwischen zwei Polen birgt Spannung, die wir oft als „nervig“ empfinden. Zusätzlich können wir nie absolut gewiss sein, dass das künftige Ereignis, auf das wir warten, tatsächlich eintritt. Es liegt also ein Hauch des Zweifels, des Hoffens, des Fürchtens, der Unsicherheit im Warten.
Selten nehmen wir uns Zeit für das Warten. Die U-Bahn kommt in zwei Minuten? Sofort zücken wir das Smartphone. Ist keine Nachricht da, sehen wir uns Videos an.Die Ampel ist rot? Wir scrollen durch endlose Postings. Der Cappuccino ist noch nicht serviert? Stumpf verschieben wir färbige Bällchen, die dann mit einer Farbexplosion Bonuspunkte generieren…
Hinzu kommt, dass wir das Warten umso stärker spüren, je passiver wir dem erhofften Ereignis ausgeliefert sind. Wenn wir auf die U-Bahn warten oder bei einer Behörde eine Nummer gezogen haben … Diese Unsicherheit macht unzufrieden, weshalb an vielen Orten Anzeigen eingeführt wurden, um das Warten zu „befristen“ und somit scheinbar kontrollierbar zu machen.
Zeit ist Geld
Das Warten, die erzwungene Pause, gilt in unserer Gesellschaft vielfach als unproduktiv und ineffizient. Zeit ist Geld. Daher sind Wartezeiten tunlichst zu vermeiden oder so kurz wie möglich zu halten. Sind wir mit Wartezeiten konfrontiert, reagieren wir ungehalten und fühlen und „betrogen“ oder „beraubt“. Das Warten wirkt auf uns bedrohlich, da es unseren ohnehin knappen Zeitplan scheinbar boykottieren will.
Um mit den seelischen und körperlichen Folgen von Zeitdrucks und Leistungsanspruch zurecht zu kommen, hetzen wir uns in die Yogastunde, laufen wir zum Achtsamkeits-Vortrag und buchen das Wochenendseminar mit dem wohltuenden Namen „Auszeit“. Das ist auch in Ordnung so, und ich möchte diese Angebote nicht missen.
Doch wie wäre es damit: Wir können die Warteschlange im Supermarkt, den Stau im Straßenverkehr, die Zeit im Wartezimmer dafür nutzen, einfach mal Ruhe zu geben. Und dann warten wir. Und atmen. Und nehmen wahr. Und erleben, was passiert.