Ein harmonisches Zusammenleben benötigt klare Grenzen. Ein Widerspruch?
Ihre Tochter hat heute wieder Ihren Rasierer benutzt. Ihr Vater ruft Sie in der Arbeit an und findet mit seiner Geschichte wieder einmal kein Ende. Ihre Freundin bohrt so lange nach, bis Sie ihr verraten, wie hoch der Kredit für das Haus ist.
Oft fällt es uns schwer, Grenzen klar zu setzen. Wir haben Sorge, unhöflich, unsozial oder egoistisch zu wirken. Wir fürchten die Konfrontation und geben um der Harmonie willen lieber nach.
Auf Dauer machen uns das Nachgeben, die Grenzverletzung und die Harmonie ärgerlich oder wütend. Wir reagieren barsch auf andere oder wir klagen uns selbst für unser Verhalten an.
Um die eigenen Grenzen zu wahren, muss ich diese zuallererst überhaupt wahrnehmen. Darin sind wir möglicherweise nicht sehr geübt. Mehrmals täglich spüren wir, dass etwas oder jemand nahe an unsere Grenze kommt oder sie überschritten wird – meist schieben wir dieses Gefühl weg oder übergehen es.
Eigene Grenzen spüren
Wo liegt Ihre persönliche Grenze? Wie weit geht Ihr persönlicher Raum? Gehen Sie im Alltag auf Spurensuche: Heute ist der Bus wieder überfüllt? Super! Nutzen Sie die Gelegenheit und trainieren Sie Ihre Wahrnehmung: Wie genau spüren Sie, wenn Ihnen jemand räumlich zu nahe kommt? Was bereitet Ihnen dabei Unbehagen? Welches Gefühl im Körper haben Sie dabei? Welche Gedanken gehen Ihnen dabei durch den Kopf? Schließen Sie für einen Moment die Augen und fühlen Sie in sich hinein.
Installieren Sie Ihr „Grenzlämpchen“
Kennen Sie das? Sie reagieren auf eine Kleinigkeit sehr barsch und unwirsch? Sie fühlen sich danach schlecht, weil Sie unverhältnismäßig hart reagiert haben? Wut und Aggression sind u.a. dazu da, unsere Grenzen zu wahren. Sehen Sie Ihre Wut als Ihr persönliches „rotes Grenzlämpchen“: Geht das Lämpchen an, können Sie kurz innehalten und sich fragen, was war der Moment, wo ich meine Grenze übergangen habe, wo ich meine Grenze nicht deutlich gemacht habe. Meist hat das mit der vermeintlichen Kleinigkeit, die als Auslöser dient, nichts zu tun.
„Um tolerant zu sein, muss man die Grenzen dessen, was nicht tolerierbar ist, festlegen.“
Umberto Eco
Helfen Sie Ihren Mitmenschen
Ganz bestimmt überschreiten auch wir hin und wieder die Grenzen anderer. Warum? Weil wir sie nicht erkannt haben! Selten verletzen wir die Grenzen anderer mit voller Absicht.
Helfen Sie also Ihren Menschen, Ihre persönlichen Grenzen zu erkennen:
_ Nehmen Sie Ihr „Grenz-Signal“ ernst.
Nehmen Sie Ihre Signale wahr und spüren Sie genau hin: Was stört Sie gerade?
_ Reagieren Sie unmittelbar.
Packen Sie die Gelegenheit beim Schopf und reagieren Sie auch auf kleine Grenzverletzungen sofort.
_ Seien Sie klar und deutlich.
Sagen Sie kurz und knapp, was Sie möchten oder nicht möchten. Höflichkeitsfloskeln sind hier nicht angebracht.
_ Wiederholen Sie sich, falls nötig. Reagiert Ihr Gegenüber nicht, wiederholen Sie Ihr Anliegen. Fragen Sie nach, ob Sie gehört und verstanden wurden.
_ Grenzen Sie sich tatkräftig ab. Sperren Sie beispielsweise Ihre Wohnungstür von innen ab oder lassen Sie den Schlüssel stecken, wenn Sie nicht wollen, dass Ihre (Schwieger-)Eltern einfach so Ihren Wohnraum betreten. „Läutet das nächste Mal an, ich möchte Euch gerne an der Tür begrüßen.“
_ Respektieren Sie die Grenzen anderer, ohne beleidigt zu sein.
Weist Ihr Sohn Sie daraufhin, dass Sie Ihn nicht aussprechen lassen? Perfekt. Lassen Sie Ihn zu Wort kommen. Sie können von seiner Grenzziehung lernen.
Das eigene Selbst ernst nehmen
Grenzen sind dazu da, uns selbst ernst zu nehmen, uns selbst zu behaupten, uns selbst zu verwirklichen. Wir brauchen Grenzen genauso sehr wie Nähe. Gestehen Sie sich Ihre Grenzen zu, bleiben Sie sich selbst treu und leben Sie Ihren Kindern vor, für sich selbst einzutreten. Holen Sie sich Unterstützung, wenn es Ihnen schwer fällt. Bleiben Sie mutig und geduldig mit sich selbst.