Langzeitstillen vor Gericht

Fachartikel aus dem NANAYA-Programmheft 08/2016

Ein Bericht aus der Schweiz hat uns sehr nachdenklich gemacht. Eine Mutter aus dem Zürcher Limmattal hat ihrer siebenjährigen Tochter die Brust gegeben. Weil der Vater dies zuließ, ist er unter anderem wegen Schändung zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt worden. Die Mutter wird sich noch vor dem Bezirksgericht verantworten müssen.

Den Fall aus der Ferne zu beurteilen, ohne alle Fakten zu kennen, macht keinen Sinn. Dennoch eröffnet der Bericht aus der Schweiz einen Diskurs. Klar ist, dass der Richter das Stillen einer Siebenjährigen offensichtlich als Missbrauch eingestuft hat. Das gibt Anlass zur Sorge. Langzeitstillen wird in ein falsches Licht gerückt. Es ist fraglich, ob kompetentes und ausgebildetes Personal zum Fall hinzugezogen wurde. Das Fachwissen über das Stillen verbreitet sich in den letzten Jahren erst langsam wieder. Eine ganze Babygeneration von 1950 bis Mitte der 80er ist praktisch nicht gestillt worden. Viel Stillwissen ist so verloren gegangen.In 14 von 35 traditionellen Kulturkreisen stillen Frauen ihre Kinder bis weit über das Säuglingsalter hinaus, vereinzelt bis in das Kindesalter von zehn bis zwölf Jahren. Diese Kinder sind laut den beobachtenden Anthropologen psychisch nicht auffällig.

Bei uns wird das Stillen von Kindern im Verborgenen bzw. im privaten Raum praktiziert – vor allem je älter die Kinder sind. Grund dafür ist vielfach, dass sich die Mütter den Reaktionen aus der Öffentlichkeit, die von Unverständnis bis zum Vorwurf der „Anzüglichkeit“ reichen, nicht aussetzen möchten. Genaue Zahlen, wie viele Mütter ihre Kinder im Kleinkind- und Schulalter noch stillen, gibt es nicht.

Die Forschungsergebnisse der American Acadamy of Pediatrics (AAP) zeigten schon 2005, dass keine negativen Folgen bezgl. Langzeitstillen bekannt sind: Nach Auswerten von Fachliteratur gibt es keine Hinweise auf schädliche Effekte auf die Psyche oder die Entwicklung des Kindes, wenn in das 3. Lebensjahr hinein oder länger gestillt wird. Im Gegenteil, langes Stillen scheint positive Effekte auf die Gehirnentwicklung (langkettige Fettsäuren) zu haben.

Das Wissen über das Stillen wird von Generation zu Generation weitergegeben. Um dieses Wissen wieder zu etablieren, braucht es Stillberaterinnen. Denn viele Frauen stehen schon bei kleinen Still-Schwierigkeiten vor großen Problemen. Viele Mythen und Unwahrheiten über das Stillen verunsichern vor allem Mütter von Erstgeborenen.

Der Wert des Langzeitstillens sollte evidenzbasiert betrachtet werden, EntscheidungsträgerInnen sollten Fachpersonal hinzuziehen wie z.B. Hebammen mit IBCLC-Ausbildung[1]. Denn wie erkenne ich eine gesunde Stillbeziehung und wo fängt Missbrauch an? Woher weiß ein Richter, wie lange eine „normale“ Stilldauer betragen kann? Aufklärung – nicht nur der Mütter – ist wichtig. Mit dem Schweizer Urteil werden langzeitstillende Frauen kriminalisiert. Dem gilt es entgegenzuwirken.

Cornelia Kafka und Claudia Versluis
Nanaya, Juni 2016

Siehe auch: blog.kinder-verstehn.de

[1] International Board Certified Lactation Consultant

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